Im Gegensatz zu den inzwischen gut erforschten mittelalterlichen Stadtkernen von Münster, Soest oder Paderborn fügen sich die einzelnen Puzzlestücke zur Bielefelder Stadtwerdung erst allmählich zusammen. Die ersten umfassenden archäologischen Ergebnisse zur Entwicklung Bielefelds erbrachte die Ausgrabung «An der Welle» (rund 3000 m2 Fläche) in den Jahren 2000 bis 2002 (Leitung Brigitte Brand und Dieter Lammers). Mit der von Mai bis November 2017 sowie in Form von Baubeobachtungen im März und Juni 2018 durchgeführten Ausgrabung «Alter Markt/Piggenstraße» wurde ein weiteres Areal (ca. 1350 m2) flächig untersucht (Firma Archäologie am Hellweg eG, Leitung Bernhard Sicherl). Dank der finanziellen Unterstützung der GeFAO e. V. konnte nun im Jahr 2020 auf Basis der von der Firma Archäologie am Hellweg eG erstellten Grabungsdokumentation die wissenschaftliche Auswertung der Grabung durch Eva Manz erfolgen. Die Ergebnisse sollen hier kurz vorgestellt werden.
Anlass der Ausgrabung war das Bauvorhaben der Bankhaus Lampe KG, das Neubauten und Sanierungen des Gebäudeensembles Alter Markt (Bereich Alter Markt/Gehrenberg/Piggenstraße) inklusive eines Tiefgaragenbaus umfasste. Vor allem im nördlichen und mittigen Bereich der Grabungsfläche war die archäologische Befunderhaltung durch großflächige Zerstörungen der Vorgängerbebauung nicht mehr oder nur noch in tieferen Bereichen (beispielsweise untere Abschnitte von Brunnenröhren) gegeben.
Vorgeschichtliche Funde und Befunde konnten auf dem Grabungsareal nur vereinzelt dokumentiert werden, eine umfassendere Publikation dazu ist durch Bernhard Sicherl (s. Literatur) bereits erfolgt. Den ältesten Fund bildet ein jungpaläolithisches Federmesser, zeitlich gefolgt von einem Mahlstein aus Granit aus dem Zeitraum Jungsteinzeit bis Eisenzeit. Von besonderer Bedeutung sind der Befund einer kesselförmigen Vorratsgrube sowie Funde von Keramikscherben der Spätbronzezeit zu werten. Zusammen mit dem von Tanja Zerl (Labor für Archäobotanik an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln) aus Bodenproben bestimmten bronzezeitliche Getreidespektrum lässt sich hier ein Siedlungsbefund nachweisen, der einem in der Nähe des südlich verlaufenden Bachlaufs (heutiger Bohnenbach) gelegenen Gehöft zuzuordnen sein dürfte.
Für die frühen Jahre der zwischen 856 und 866 erstmals genannten Siedlung «Bylanuelde» existieren bisher nur indirekte Siedlungsnachweise über Keramikfunde. Anhand dieser lässt sich aber trotz fehlender Befunde eine Besiedlung des Gebietes nördlich des Bohnenbaches seit dem 8. Jahrhundert erkennen.
Die ältesten Siedlungsbefunde datieren in das 11./12. Jahrhundert. Für diesen Zeitraum lässt sich im Bereich südlich des Alten Marktes eine lockere Bebauung aus Pfostenhäusern, umgeben von einem weitläufigen Gartengelände, feststellen. Von insgesamt drei nachweisbaren Gebäuden sind die beiden östlich gelegenen wahrscheinlich zu einer Hofstelle zu zählen. Als Frischwasserquelle ist der rund 115 m südlich gelegene Bohnenbach anzunehmen – Brunnen, wie im nördlichen Bereich des Grabungsgeländes «An der Welle» belegt, sind für das 11. und 12. Jahrhundert nicht nachzuweisen. Da keine entsprechenden Einrichtungen erfasst wurden, dürfte jegliche Entsorgung über auf dem Gartengelände gelegene Misthaufen erfolgt sein.
Das historische Datum der Stadtgründung 1214 bestimmt den Zeitpunkt, zu dem Bielefeld spätestens im rechtlichen Sinne eine Stadt war - der eigentliche Prozess der Stadtwerdung verlief aber über mehrere Jahre bzw. Jahrzehnte. Für Bielefeld ist anhand der Grabungsbefunde «Alter Markt/Piggenstraße» der Zeitraum der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts als sogenannter Stadtgründungshorizont zu bestimmen. Die Stadtwerdung begann mit der Einteilung von Grundstücksflächen entlang den umgebenden Straßen (Alter Markt, Piggenstraße, Welle und Gehrenberg) und einer Ablösung der weiträumigen Pfostenbebauung durch erste bereits an den neuen Grenzen orientierte unterkellerte Fachwerkgebäude. Der Blick auf die Grundstücksgrößen zeigt deutliche Unterschiede: Entlang des Alten Markts und der Welle befanden sich großzügige Hausstätten mit Größen von bis zu 29,50 m Länge und 9,50 m Breite. Die kleinsten der Grundstücke, die sich östlich der Piggenstraße aneinander reihen, erreichten hingegen nur Größen von 10,50 m Länge und 4 m Breite, waren also gerade mal halb so groß.
Am Ende des 12. Jahrhunderts waren bereits alle Hausstätten entlang der Piggenstraße erschlossen, wie u.a. die Entstehung der Brunnenanlagen entlang der östlichen Grundstücksgrenzen belegt. Dabei lassen sich durchaus unterschiedlich starke Investitionsschübe nachweisen: Noch vor 1200 und damit besonders zügig erfolgte die Bauabfolge von einer unterkellerten Fachwerkbebauung zu einem Steinwerk im rückwärtigen Bereich des Grundstücks Welle 1. Ein weiteres Steinwerk entstand in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts auf dem Grundstück Alter Markt 4.
Für das 13. Jahrhundert lässt sich auf fast allen Grundstücken eine rege Bautätigkeit erkennen, die allerdings zum Teil auch auf eine vorangegangene Zerstörung durch einen lokalen Brand folgte und in diesen Fällen eher als Wiederaufbau anzusehen ist. Dennoch scheinen die Investitionsfreude hoch und die wirtschaftliche Grundlage der Bewohner dafür gut genug gewesen zu sein. Im Gegensatz dazu ist im Zeitraum des 14. und 15. Jahrhunderts ein deutlicher Rückgang der Bautätigkeit auf den Grundstücken zu beobachten, was sicherlich auch mit äußeren Einflüssen zusammenhängt. Wie in vielen Städten schlug sich die Krise, die im 14. Jahrhundert durch Hungersnöte, Katastrophen wie Heuschreckenschwärme (1338-1346) und ein Erdbeben (1348), periodisch wiederkehrende Flächenbrände, die Verwüstung des Landes durch Fehden sowie häufige Infektionskrankheiten mit dem Ausbruch der Pest 1350 ausgelöst wurde, auch hier im archäologischen Befund nieder.
Die Kombination von Funden aus zwei Latrinen mit schriftlichen Quellen ließ für das 16. Jahrhundert zum einen eine Zusammenlegung der Grundstücke Alter Markt 2 und Piggenstraße 1 bis 3 erkennen. Zudem ermöglichte sie den Nachweis einer Goldschmiede (Lubbert de Wend und sein Sohn Herman) auf diesem neuen Großgrundstück Alter Markt 2 anhand von Tiegelscherben, Gussformen und Buntmetallgussresten.
Während das 16. und 17. Jahrhundert ansonsten nur wenige bauliche Veränderungen erkennen lassen, sind für das 18. und 19. Jahrhundert teils umfangreichen Neubauten und eine deutlich stärkere Ausnutzung der Grundstücksflächen zu verzeichnen. Der wirtschaftliche Aufstieg der Leinenweberstadt, der auch mit einer Zunahme der Bevölkerungszahlen einherging, ist hier im archäologischen Befund zu fassen.
Anhand der Ausgrabung «Alter Markt/Piggenstraße» im Stadtkern von Bielefeld lassen sich die baulichen Entwicklungen in der Stadt, beginnend mit den dörflichen und bereits frühstädtischen Strukturen, über die Stadtentstehungs- und Stadtgründungszeit bis in die jüngste Zeit aufzeigen. Dabei sind auch viele Einzelaspekte wie der deutlich erkennbare Eingriff in eine bestehende dörfliche Bebauung im Zuge der Stadtplanung, wirtschaftliche Einbrüche, Umwelt- oder auch Besitzveränderungen herauszuarbeiten. Zusammen mit den Ergebnissen der unmittelbar am Rand der Altstadt (und somit auch im Bereich der ab 1520 mit der Altstadt zusammengelegten Neustadt) gelegen Ausgrabung «An der Welle» ergibt sich dadurch inzwischen ein detaillierter Blick vor allem auf die Anfänge Bielefelds. (EM)
Literatur:
Brigitte Brand/Dieter Lammers, Erste Ergebnisse der Ausgrabung an der „Welle“ in Bielefeld. Archäologie in Ostwestfalen 6, 2001, 55-73.
Wolfgang Schindler, Eine Bielefelder Häuserkartei – ein Werkstattbericht. In: Ravensberger Blätter, 2012, H. 2, 1-12.
Bernhard Sicherl, Gussformen eines Bielefelder Goldschmiedes. In: LWL-Freilichtmuseum Hagen (Hrsg.), Echt Alt! Mittelalterliches Handwerk ausgegraben. Forschungsbeiträge zu Handwerk und Technik 33 (Hagen 2018) 151-152.
Bernhard Sicherl/Tanja Zerl, Spätbronzezeitliche Siedlungsspuren und vorgeschichtliche Funde der Stadtkerngrabung Alter Markt/Piggenstraße in Bielefeld. Archäologie in Ostwestfalen 14, 2019, 34-41.
Reinhard Vogelsang, Geschichte der Stadt Bielefeld I. Von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 2(Bielefeld 1989).